Beitrag über die Verhältnisse in Estland

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Ich stelle jetzt zunächst einige Punkte vor, an denen in Estland Geschichte sichtbar bzw. anfassbar gemacht wird.

Bronzesoldat

Gehört zu den bekanntesten Symbolen des estnischen Erinnerungskrieges.
Errichtet 1947 als „Denkmal für die Befreier“, am Rande der Altstadt von Tallinn. Wurde in den Jahren 2005 bis 2007 Schauplatz erbitterter Zusammenstöße und Straßenschlachten zwischen estnischen und russischen Aktivisten. Darin zeigt sich exemplarisch, wie geschichtspolitische Konflikte und Nationalitätenkonflikte sich vermengen.
Das kann hier nicht weiter ausgeführt werden, aber als Hintergrundwissen sollte man abspeichern, dass es in Estland eine starke russische Minderheit gibt, in Tallinn fast die Hälfte der Bevölkerung, von denen viele nicht einmal die Bürgerrechte haben. Die estnische Gesellschaft erfährt eine tiefgehende ethno-soziale und politische Spaltung, die natürlich viel Konfliktpotential bietet, das sich dann unter anderem auch an geschichtspolitischen Auseinandersetzungen entzündet.

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Für Russen war das Denkmal ein Ort der Identifikation mit ihrer eigenen Geschichte, an dem sie jedes Jahr am 9. Mai den Tag des Sieges feiern konnten.
aus estnisch-nationalistischer Sicht hieß das zugleich: Mitten in der Hauptstadt ihres Landes wird der Sieg einer ausländischen „Okkupationsmacht“ gefeiert. Das empfanden sie umso bitterer, weil Esten selbst einen solchen Anlaufplatz, um sich ihrer selbst zu vergewissern nicht hatten.
2005 hatte sich der Konflikt massiv zugespitzt. Rechte Parteien wollten das „Besatzerdenkmal“ demontieren, es gab Auseinandersetzungen zwischen russischen Teilnehmern der Siegesfeier und estnisch-nationalistischen Demonstranten, Farbschmierereien, Demos und Gegendemos. Skinheads marschierten in deutschen Uniformen auf usw. Der Konflikt wurde zum prominenten Thema im Wahlkampf, und die Wahlen haben jene Parteien gewonnen, die das Denkmal weg haben wollten. Im April 2007, einen Monat nach den Wahlen, wurde es aus dem Stadtzentrum auf den Militärfriedhof verlegt, unter schweren Straßenkrawallen, die meist nach dem Motto „Russen gegen Esten“ wahrgenommen wurden. Der damalige – und heutige – Ministerpräsident: Andrus Ansip.

Waffen-SS

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In den Jahren, bevor der Streit um den Bronzesoldaten eskalierte, gab es in Estland immer mehr Geschichtspublikationen, in denen die einheimischen Waffen-SS-Verbände (20. Waffen-SS-Grenadierdivision, die sog. Estnische Legion – als Freiheitskämpfer dargestellt werden. Sie hätten gegen eine neuerliche Besatzung durch die Sowjetunion, für die Unabhängigkeit gekämpft, heißt es.
Das entspricht der Linie, die schon die estnische Exilregierung 1944 verfolgte: Sie forderte die estnischen Männer auf, ihrer im Januar 1944 von den Deutschen auferlegten Dienstverpflichtung zu folgen, um gegen die Rote Armee zu kämpfen und eine Besetzung durch die Sowjetunion zu verhindern.
Da könnte man Fragen stellen. Wie soll ein Unabhängigkeitskampf funktionieren, wenn man unter dem Kommando einer anderen Besatzungsmacht kämpft? Was wäre da wohl für ein Staat entstanden, wenn diese Leute gewonnen hätten? Was hält man davon, dass sie mit ihrem Kampf das Fortbestehen der Konzentrationslager verlängert haben? Diese Fragen bleiben offen. Die „Freiheitskämpfer“ gelten als, meist tragische, Helden.

Das ist keine Minderheitenmeinung, es sind nicht nur einige isolierte, rechtsextreme Spinner, sondern wird von ganz oben gedeckt.
Der ehemalige Ministerpräsident und Verteidigungsminister Mart Laar hat 2008 den Bildband über die „Estonian Legion“ herausgegeben, in dem der Kampfgeist und die Kampfkraft der Estnischen Legion gefeiert wird.
Im Jahr 2012 hat das estnische Parlament feierlich erklärt, alle, die sich am Kampf gegen die Sowjetunion beteiligt hatten, seien als „Freiheitskämpfer“ zu würdigen, nach allg. Verständnis schließt das auch die Waffen-SS ein.
Jedes Jahr im Sommer gibt es nahe der Ortschaft Sinimae im Osten des Landes, dem Schauplatz einer großen Schlacht des Jahres 1944, einen großen Aufmarsch zu Ehren der Waffen-SS, mit Grußworten der Regierung. Hier evtl. das Video, das ich Dir geschickt hatte?

Eine Sache ging allerdings zu weit:

Screenshot_4 Dieses Denkmal eines estnischen Waffen-SSlers. Es wurde 2004 in einer Ortschaft an der Westküste (Lihula) errichtet, musste aber, nicht zuletzt wegen Protesten der EU, abgeräumt werden.

Deutlich sind die Insignien des estnischen Militärs zu sehen, genauso wie der Reichsadler.

Heute steht es auf dem Gelände eines Faschisten, der seine Villa großspurig als „Museum des Estnischen Freiheitskampfes“ bezeichnet, und so sieht sein Vorgarten aus.
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Angeblich, das konnte ich aber nicht verifizieren, erhält dieses Museum staatliche Unterstützung.
Anzumerken ist noch: Nachdem dieses Nazidenkmal in den privaten Bereich verbannt worden ist, haben rechte Kräfte mit ihrer Kampagne gegen den Bronzesoldaten begonnen.


Freiheitskreuz

Das Fehlen eines eigenen, estnischen Erinnerungsortes ist 2009 mit der Errichtung des Freiheitskreuzes behoben worden. Es steht ebenfalls am Rande der Altstadt.
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Die ursprüngliche Absicht, das Denkmal solle die Idee der Freiheit als solche, abstrakt, versinnbildlichen, wurde fallengelassen, als der Wettbewerb in die Hände des Verteidigungsministeriums gegeben wurde. Das merkt man daran, dass es offiziell „Siegessäule für den estnischen Freiheitskrieg“ heißt

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und nur an einen einzigen Aspekt der estnischen Geschichte erinnert: An den Unabhängigkeitskampf der Jahre 1918-1920. Das Kreuz selbst ist eine militärische Auszeichnung der ersten estnischen Republik. Das neue Estland vergewissert sich seiner selbst mit einem Kriegerdenkmal.

Museum der Okkupationen

Bereits 2003 wurde das „Museum der Okkupationen und des Freiheitskampfes“ eröffnet.

Okkupationen im Plural, denn es gilt hier zu erinnern an (Zitat) „drei Besetzungen durch zwei große totalitäre Mächte.“
Der Zweck des Museums wird aScreenshot_8uf Tafeln folgendermaßen geschildert: Es solle deutlich machen, dass das estnische Volk sich niemals den fremden Mächten ergeben habe, sondern dass es sein Haupt bei der ersten sich bietenden Gelegenheit erhoben habe, um die nationale Unabhängigkeit und Freiheit zurückzuerlangen.
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Das Museum soll also historische Vorgänge, wie komplex sie auch immer waren, auf eine Linie bringen, die direkt auf die Unabhängigkeit 1991 zuläuft. Offener kann man kaum zugeben, dass man Geschichte instrumentalisieren will, hier wiederum mit dem Zweck, eine Kontinuität des Freiheitskampfes aufzuzeigen, von 1918 bis 1991.

Das Museum wird dominiert von diesen zwei Lokomotiven,

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welche die brutale Gewalt ausdrücken sollen, die gleichermaßen unterm Hakenkreuz oder Sowjetstern ausgegangen sei.
Auf der Rückseite jeweils ein BronzekopfScreenshot_11 von Lenin und von Hitler.

– das überrascht etwas, weil die direkte Gegenüberstellung ja eher ahistorisch ist; man hätte hier eher Stalin und Hitler erwartet.

 

Die Treppe runter

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stehen dann noch einige Denkmäler aus der Sowjetzeit, sehr symbolisch neben die Toiletten verbannt.

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Die Vitrinen enthalten Dokumente und Alltagsgegenstände aus den Besatzungsperioden. Der Gründer des Museums selbst gibt als Leitlinie der Exponate an, sie sollten „Ausdruck einer vom Totalitarismus geprägten Atmosphäre“ sein (Quelle: Der Kommunismus im Museum, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 109)

Dazu gibt es hier etwa ein SS-Soldat und Rotarmist, die, wenn man so will, einträchtig nebeneinanderstehen, genauso wie der Hinweis auf den Ribbentropp-Molotov-Pakt
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Propagandaschriften, Deportationsanordnungen usw., aber auch sehr viel Banales, wie etwa

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sowjetisches Klopapier,

 

 

 

 

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diesen Frisierstuhl.

 

Ob das als Nachweis einer vom Totalitarismus geprägten Atmosphäre taugt, oder ob es einfach nicht mehr solcher Exponate gibt, muss man sich schon fragen …

Auffällig ist, dass der Holocaust fast gar nicht erwähnt wird.

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Es gibt zwar Vitrinen für Gulags.

 
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Diese Koffer erinnern ebenfalls an die unter Stalin Deportierten, aber wer über den Holocaust etwas erfahren will, der findet hier nichts. (Dafür muss man in das kleine Jüdische Museum gehen, das über erkennbar weniger Budget verfügt, es reicht dort noch nicht einmal für eine englische Übersetzung). Dazu ist noch anzumerken, dass der Holocaust unter den estnischen Jüdinnen und Juden relativ (!) wenig Opfer gefordert hat, weil vielen noch die Flucht gelang. Es wurden aber Jüdinnen und Juden aus anderen Ländern in KZ auf estnischem Boden deportiert und dort ermordet. Es gäbe also durchaus Grund für ein „Museum der Okkupationen“, hierauf einzugehen.
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Auf einer Tafel, heißt es, das Ende des Zweiten Weltkrieges „bedeutete für Estland keine grundlegende Wende“. Dem folgt die Äußerung: „Hinsichtlich der Toten und der Intensität der Unterdrückung, die das Volk erlitten hat, war die deutsche Besatzung nicht so schlimm wie die vorangegangene und nachfolgende sowjetische“.
Weiter heißt es: „Die Periode des Terrors kulminierte in den Massendeportationen des März 1949“ (der Terror sei unter den Sowjets also schlimmer als unter den Nazis gewesen), als bis zu 60.000 Menschen verhaftet bzw. deportiert wurden. Damit sei der Widerstand der sogenannten Waldbrüder gebrochen worden (d. h. der antisowjetischen sog. Nationalen Partisanen), die hier ebenfalls als Freiheitskämpfer vorgestellt werden, auch mit zahlreichen Zeitzeugenberichten als Videos. Dass viele Waldbrüder zuvor mit den Nazis paktiert hatten, dazu liest man in diesem Museum nichts.

 

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